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Wiegenlieder der Schmerzen. Vardo Rumessen

13.85

VALUDE HÄLLILAULUD
Wiegenlieer Der Schmerzen
Johannes Brahms

Vardo Rumessen, klaver

CD
2013
ERP 7513

In stock

Category:
Detailne info

JOHANNES BRAHMS
Works for piano

VALUDE HÄLLILAULUD
WIEGENLIEDER DER SCHMERZEN

VARDO RUMESSEN, piano

Released on Dec 20th, 2013.

1 Ballade in D minor Andante op 10 No 1 5:50
2 Ballade in D major Andante op 10 No 2 8:04
3 Ballade in B minor Intermezzo. Allegro op 10 No 3 5:05
4 Ballade in B major Andante con moto op 10 No 4 9:18
5 Capriccio in F-sharp minor op 76 No 1 7:07
6 Intermezzo in E-flat major op 117 No 1 5:34
7 Intermezzo in B-flat minor op 117 No 2 5:32
8 Intermezzo in A minor op 118 No 1 2:35
9 Intermezzo in A major  op 118 No 2 8:27
10 Intermezzo in E-flat minor op 118 No 6 5:51
11 Intermezzo in B minor op 119 No 1 4:33
12 Rhapsodie in G minor op 79 No 2 8:13

Total time 76:17

player #1, Ballade in D minor Andante op 10 No 1, fragm, 3 min 7 sec, mp3, 320 Kbps
player #5, Capriccio in F-sharp minor op 76 No 1, fragm, 3 min 39 sec, mp3, 320 Kbps

Recorded in Estonia Concert Hall on Nov 2nd and 3rd, 2013
Engineered and mastered by: Tanel Klesment
Instrument: Steinway & Sons
Piano turner: Andres Leesik
Liner notes by Maia Lilje and Vivre Normet
Transalations: Medea Jerser
Design: Tiina Sildre
Co-producer: Peeter Vähi
Special thanks: Cultural Endowment of Estonia

© 2013 Estonian Classics, ERP (Tallinn)
ERP 7513
EC 013

ÜBER DIE KLAVIERMUSIK VON JOHANNES BRAHMS

JohannesBrahmsJohannes Brahms, dem in seiner Jugend eine brillante Virtuosenlaufbahn als Pianist vorhergesagt wurde und der bis in die späten dreiβiger Jahre seines Lebens aktiv konzertiert hatte, wurde wohl nicht mit den gröβten seiner Zeit Thalberg oder Liszt verglichen, aber offensichtlich besaβ auch er technische Mittel, die von dem höchsten Niveau der Pianistik vorausgesetzt wurden. Die pianistische Stärke von Brahms lag nicht in der äuβeren Bravour des Spiels, sondern in der orchestralen Klangfülle, in der Einfühlsamkeit bei den Details und in der ideellen Tiefe. Seine Virtuosität sowohl als Interpret als auch Schöpfer trat vor den inhaltlichen Werten der Musik zurück.

Brahms komponierte für Klavier als Soloinstrument nicht so viele Werke wie Chopin, Schumann oder Liszt: In der Liste seiner Schöpfungen gibt es nur 16 Klavierwerke oder Zyklen unter verschiedlichen Opusnummern. Die Zahl wäre bedeutend gröβer gewesen, hätte Brahms in seiner Jugend und auch im reiferen Alter eine Anzahl Werke nicht selbstkritisch vernichtet. Eigentümlicherweise kommt diesem Instrument in der Musik von Brahms eine vorherrschende Stellung zu, wenn man hierbei zwei monumentale Konzerte, 16 Ensemblewerke mit Klavier, rund 200 Sololieder mit Klavierbegleitung sowie mehrere Ensemble- und Chorwerke bedenkt.

Die Klavierwerke von Brahms verteilen sich auf drei Schaffensperioden, die sich zeitlich deutlicher abgrenzen als in der Ensemblemusik. In der ersten Periode bis zum Jahr 1854 komponierte er drei Sonaten sowie ein Scherzo es-Moll. In der zweiten Periode, 1862 bis 1866, entstanden Vier Balladen op 10 und fünf umfangreiche Variationszyklen. In diesen Werken zeigten sich die wesentlichen Eigenschaften des brahmsschen Klavierstils: beachtlicher Melodienreichtum, die Dichte der verschiedenen Linien der Faktur und der kontrapunktischen Unterstimmen, orchestrale Klangkraft der oft gebrochenen und sich in grossen Sprüngen in verschiedene Richtungen bewegenden und extreme Register des Klaviers erfassenden Akkorde.

1866 bis 1879 veröffentlichte Brahms keine Klavierwerke, vielmehr befasste er sich als Solist, Ensemblespieler und Dirigent mit Konzerttätigkeit und dem Komponieren von groβen Musikwerken. 1878 bis 1880 konzentrierte er sich wieder auf das Klavier Solo, in dem er acht Stücke op 76 und 2 Rhapsodien op 79 komponierte. Brahms’ Spätwerk aus der Periode 1892–1893 umfasst insgesamt 20 Stücke: Capriccios, Intermezzos, daneben finden wie nur eine Ballade, eine Romanze und eine Rhapsodie.

In den Vier Balladen op 10 (1854) richtete Brahms erstmalig seinen Blick auf das von derromantischen Literatur inspirierte Balladen-Genre, das bereits in den Schöpfungen Chopins einen festen Platz gefunden hatte. Nur bei der ersten Ballade wies der Komponist selber auf die literarische Quelle, auf eine trostlose schottische Ballade “Edward”, entnommen der von Herder erstellten Sammlung “Stimmen der Völker in Liedern”. Dieser liegt ein Zwiegespräch zwischen der eindringliche Fragen stellenden unglücklichen Mutter und ihrem Sohn zugrunde, demzufolge dieser den blutigen Mord an seinem Vater eingesteht. In dieser Ballade wird eine Geschichte entwickelt, in der die Musik einen dramatisch ergreifenden und die Struktur des Textes sehr dynamisch befolgenden Ausdruck erhält. Robert Schumann, dem Brahms die Noten seines neuen Opus zustellte, erkannte die Neuartigkeit der ersten Ballade an, bewunderte die zauberhafte Klangfantasie der zweiten Ballade, hörte in der dritten Dämonenhaftigkeit und in der vierten befremdende Schönheit einer volksliedartigen einfachen Melodie.

Unter den 1879 vollendeten Acht Stücken op 76 gibt es jeweils vier Capriccios und vier Intermezzos. Intermezzos haben eine klarere Form, blicken nach Innen; die Capricci dagegen sind dramatischer, in den musikalischen Bildern weisen sie schärfere Kontraste auf und haben einen freieren fast rhapsodiehaften Aufbau, wie auch Capriccio Nr 1 fis-Moll (Un poco agitato). Die Notengrafik der Handschrift, gestaltet mit schön gebogenen, schwungvollen Federzügen, legt ein Zeugnis von schöpferischer Eigenständigkeit und Reife von Brahms ab.

In einem Jahr wurden Zwei Rhapsodien op 79 geschrieben. Die Erste hieβ vorläufig wieder Capriccio, die Zweite war ganz namenlos. Brahms erklärte dem Verleger Simrock: “Sie wissen, dass ich immer das nichtssagende Wort “Klavierstück” bevorzuge, und namentlich, weil es nichts sagt…” Auf Empfehlung von Elisabeth von Herzogenberg, der op 79 gewidmet war, fanden beide Stücke schlieβlich eine gemeinsame Überschrift. Dem Wesen einer Rhapsodie im lisztschen Sinne liegt die Erstere näher, h-Moll. In der Rhapsodie Nr 2 g-Moll (Molto passionato, ma non troppo allegro) zog Brahms der improvisatorischen Ausdrucksweise eine sicherere, obwohl mit gewisser Freiheit behandelte Sonatenform vor. Die Musik mit drei von Intonation nahen Themen ist aber explosiv und leidenschaftlich, in einem kraftvollen Verlauf und mystisch-melancholischen Schattierungen führt das Werk in seinen düsteren Abschnitten in die Atmosphäre der Edward-Ballade.

In den späten 1880er Jahren komponierte Brahms unter verschiedenen Opuszahlen gebündelt eine Reihe von Liedern, deren Texte von seelischer Einsamkeit, Heimwehe, verlorenen Hoffnungen, irdischer Vergänglichkeit sprechen. Obwohl im Leben von Brahms anscheinend alles im Gleichgewicht lag, eröffnete er in seinen Briefen auch an die engsten Freunde nicht, was in seiner Seele vorging. Allmählich verzichtete er auch auf die Lieder, damit die poetischen Zeilen seine innigsten Gedanken hörbar nicht noch verstärkten, und vertraute seine verborgenen Gefühle wieder seinem Musikinstrument an.

Brahms’ Klavierschaffen aus den Jahren 1892–1893 enthält im Ganzen 20 Stücke: Sieben Fantasien op 116, drei Intermezzos op 117, Sechs Klavierstücke op 118 und Vier Klavierstücke op 119. Der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick charakterisiert sie mit den Worten Pessimismus Pervier. Hier verlieβ der Komponist alles Äuβerliche, fokussierte sich auf das Wesentliche, zeigte sich als Architekten, der mit knappem Material auskommt. Diese späten Klavierstücke mit ihren kunstvoll feinen Tongeflechten und geschliffener Kontrapunktik sowie feinen Formstukturen sind wie mild schillernde Perlen.

Viele Zeitgenossen konnten etwas so bis in die äuβerste Schlichtheit Zurückgeführtes, kristallklar Ausgedrücktes nicht so recht schätzen. Der in Wien als heftiger Brahms-Gegner bekannte Kritiker Hugo Wolf nannte es geistlos, ohne zu bedenken, dass er mit Ironie schreibend doch direkt ins Schwarze traf: “Ganz wie der liebe Gott versteht auch Herr Brahms sich auf das Kunststück, aus nichts etwas zu machen.” Maximale Ökonomik im Umgang mit dem musikalischen Stoff veranlasste auch Arnold Schönberg ein paar Jahrzehnte später in seinem Aufsatz “Brahms, der Fortschrittliche” die in die Zukunft weisenden Züge dieser Werke hervorzubringen.

In der Musik, die Brahms in seinen letzten Jahren verfasste, klingt die Melancholie der Entsagung. Trotzdem fehlen hier auch leidenschaftliche Gefühlsausbrüche, Schmerz und Bitterkeit nicht. Diese Werke sind wie Selbstgespräche, Geständnisse eines sehr einsamen Menschen, in dem sie zugleich eine beglückende Möglichkeit zum Zwiegespräch zwischen dem Spieler selbst und seinem Musikinstrument darbieten. Zu den Drei Intermezzos op 117 im verhaltenen Tempo sagte der Komponist selber: “Sie sind die Wiegenlieder meiner Schmerzen!” Schwermütige und in die Stille gerichtet Momente und wieder wie in der Ballade der Jugendzeit benutzte Brahms im ersten Intermezzo Es-Dur Verse eines Wiegenliedes: “Schlaf sanft, mein Kind, schlaf sanft und schön! Mich dauert’s sehr, dich weinen sehn” (aus Herders Sammlung “Stimmen der Völker in Liedern”) als gedanklich-satzmelodische Quelle. Im Intermezzo b-Moll (Andante non troppo e con molta espressione) klingt eine zart sehnsüchtige Melodie in der Art Schumanns über fließenden Begleitfigurationen. Der von unruhiger Chromatik gespannte mittlere Satz läuft wieder in eine Stimmung der Nostalgie aus.

Sechs Stücke op 118 unterscheiden sich von dem vorigen Opus durch eine stilistische Vielfalt. Das erste kurze und ruckartig einsetzende Intermezzo a-Moll (Allegro non assai, ma molto passionato) kommt zu einem verklärenden A-Dur. Das im gleichen Tonart liebenswürdig aufrichtig und tröstend folgende Intermezzo A-Dur (Andante teneramente) stellt wieder ein Musterbeispiel für die Kontrapunktik von Brahms dar. Letztes mit klagender Monodie einsetzendes, sich als eine Ballade entwickelndes und im mittleren Satz zu einer fast tragischen Todesanzeige anschwellendes Intermezzo es-Moll (Andante, largo e mesto) läuft in ein vergehendes Klagelied aus und bringt eine zur Versöhnung ausholende Lösung mit sich.

Zu den Vier Klavierstücken op 119 gehören Drei Intermezzos und ein den Zyklus abschlieβendes und zugleich als letztes vom Komponisten für Klavier geschaffenes Werk, die kraftvolle Rhapsodie Es-Dur. Das Intermezzo h-Moll (Adagio) klingt als Ehrenbezeugung für Schumann, auf dessen Nachspiel des Heine-Liedes “Am leuchtenden Sommermorgen” er in der Musik hinweist. Brahms schrieb zum Geleit der Handschrift an Clara Schumann: “Das kleine Stück ist ausnehmend melancholisch… es wimmelt von Dissonanzen… und “sehr langsam spielen” ist nicht genug gesagt. Jeder Takt und jede Note muß wie ritardando klingen, als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle…” Der nostalgische Walzer im mittleren Satz ertönt als eine Erinnerung an das Glück der Jugendzeiten.

Philipp Spitta, ein Freund von Brahms, schrieb an den Komponisten, nachdem er im Manuskript von op 119 geblättert hatte: “Unausgesetzt beschäftigen mich die Klavierstücke, die von allem, was Sie bislang für Klavier geschrieben haben, so sehr verschieden sind, und vielleicht das Gehaltreichste und Tiefsinnigste, was ich von einer Instrumentalform von Ihnen kenne. Sie sind recht zum langsamen Aussagen in der Stille und Einsamkeit…”

VARDO RUMESSEN

VardoRumessenPhotoByPVahi35Vardo Rumessen absolvierte 1971 die Klavierklasse von Professor Bruno Lukk und Eugen Kelder am Tallinner Konservatorium, danach hat er eine weitgehende Tätigkeit als Konzertpianist sowie Musikwissenschaftler aufgenommen. Er ist vor allem als fleiβiger Verbreiter estnischer Musik bekannt und zahlreiche Bücher, Notenausgaben und Schallplatten sind von ihm erschienen. Als Pianist hat er eine breite Spannweite: Neben estnischen groβen Meistern Rudolf Tobias, Eduard Tubin, Mart Saar, Heino Eller und Eduard Oja hat er sich auch dem Œuvre von Johann Sebastian Bach, Alexander Skrjabin, Sergei Rachmaninov, Johannes Brahms, Fryderyk Chopin u.a zugewandt, in dem er oft vollständige zyklische Programme vorgetragen oder Schallplatten aufgenommen hat. Ab 1988 ist er mit Soloabenden oder mit Orchestern auβer Estland noch in Stockholm im groβen Saal der Königlichen Musikakademie, in Göteborg, in Norwegen auf den Festspielen in Harstad, in Reykjavík, Rom, in mehreren Städten der USA, in Victoria Hall Genf, in Lousanne, Riga, im Rachmaninov-Saal in Moskau, in Ankara, Hiroschima, Melbourne und anderswo aufgetreten. In seinem Vortrag sind 25 CDs mit Klaviermusik von Johann Sebastian Bach (2010), Sergei Rachmaninov (2010), Alexander Skrjabin (2011) und Fryderyk Chopin (2011) und mit Klavier- und Kammermusik estnischer Komponisten Rudolf Tobias, Mart Saar, Heino Eller, Eduard Oja und Eduard Tubin eingespielt. Eine groβe Anerkennung hat Rumessen vor allem als Interpret von Tubin gefunden − er hat gesamtes Klavierwerk von Tubin auf Schallplatten aufgezeichnet (1988) und wiederholt seine Konzertina für Klavier mit mehreren Orchestern in Estland, den USA, in Schweden, der Türkei und der Schweiz gespielt. Als Ensemblespieler ist er des Ofteren mit mehreren Sängern, Geigern, Violaspielern, Cellisten und Ensembles in diverser Besetzung aufgetreten. Rumessen hat mehr als 125 Notenausgaben und Bücher über estnische Komponisten − Tobias, Saar, Eller, Oja und Tubin verfasst. 

Auf Initiative Rumessens wurde im Jahr 2000 Internationale Eduard-Tubin-Gesellschaft ins Leben gerufen. Er ist fortwährend der Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft und Chefredakteur bei der Herausgabe der “Gesammelten Werke” von Tubin. 2001 bis 2005 hat er die Musikfestspiele “Eduard Tubin und seine Zeit” veranstaltet, wobei ihm die künstlerische Leitung oblag.

Die Musik von Johannes Brahms steht dem Herzen Vardo Rumessens besonders nahe. Er hat sämtliche 4 Balladen von Brahms wiederholt gespielt und in diesem Jahr trat er in Tallinn im Konzerthaus Estonia mit einem dem 180. Geburtstag von Johannes Brahms gewidmeten Programm auf.  Einen zentralen Teil auf dieser CD bilden die Intermezzos, zu denen Brahms selber gesagt hat: “Sie sind die Wiegenlieder meiner Schmerzen”. Seelenqual und Hingabe des Komponisten sind auch dem Pianisten sehr nahe gegangen. Die klangliche Schönheit der Brahmsschen Musik sowie die Bildhaftigkeit musikalischer Ideen verschaffen eine psychologische Atmosphäre zur Vertiefung, zur Suche und zum Ausfindigmachen von Ausdrucksmöglichkeiten, was uns dazu verhilft das Vollzogene besser zu erkennen und zu verstehen. Wenn wir dabei den Vortrag vergessen und die Schönheit und den Schmerz der Musik empfinden, hat der Interprät sein höchstes Ziel erreicht.